ANA1-10 Überfall

ANA1
Kategorie: Story Autor: ANirgends

Ratata – ta – ra – tata ….
Ein stechender Schmerz in der Bauchgegend ließ Igor aus seinem Schlaf hochfahren. Er schlummerte, den Kopf an das Seitenfenster gelehnt, mit einer dicken Decke gut gefedert, auf der Rückbank des Lasters, welcher von Iwan gesteuert ruhig durch die Nacht gebrummt war. Bis vor kurzem zumindest, denn seit ihrem Aufbruch aus Luhansk war nicht viel passiert. Sie waren anfangs Teil einer kleinen Kolonne gewesen. Seit Einbruch der Dunkelheit waren sie alleine auf der kleinen Landstraße unterwegs, welche sich Richtung Russland durch Felder und Wälder schlängelte. Zwei Mal wurden sie von Separatisten kontrolliert und durften jedes Mal ungehindert weiter fahren. Lediglich ein paar Zigaretten und ein paar Geldscheine wechselten dabei die Besitzer. Die Dokumente des Obersts aus Luhansk waren unbezahlbar.
Man war guter Dinge, Iwan sang eines seiner Volkslieder und Benno hörte man tatsächlich trotz der Fahrgeräusche auf der Ladefläche schnarchen, wenn es gerade besonders ruhig war. Igor fand, dass Benno für einen Hund recht komische Schlafgeräusche machte. Manchmal klang es, als redete er im Schlaf wie ein Mensch. Aber das glaubte Igor nun selber nicht und begann langsam zu dösen und war schließlich eingeschlafen….
Bis ihn diese unglaublichen Schmerzen hatten aufwachen lassen. Das ratternde Geräusch war eindeutig eine Maschinenpistole oder etwas Ähnliches. Das metallische Dröhnen war vermutlich das Auftreffen von Geschossen auf den Blechen des Lastwagens und der Schmerz, oh Nein, Igor fasste mit der rechten Hand an seinen Bauch und fühlte dort eine warme, feuchte, leicht zähflüssige Substanz, welche seine Finger benetzte und langsam umhüllte. Der Schmerz war enorm, aber der Schreck, der ihn jetzt endgültig hellwach werden ließ, verursachte durch das reflexartige ruckartige Aufrichten einen noch größeren Schmerz, der sich anfühlte, als käme er aus jeder Pore seines Körpers.
Er schrie vor Pein auf und sackte leise keuchend auf dem Rücksitz in sich zusammen, den Kopf gegen die Nackenstütze des Vordersitzes drückend. Schweiß rann ihm über das inzwischen glühende Gesicht.
Igor war vom Projektil eines Schnellfeuergewehres getroffen worden und kämpfte in diesen Augenblicken damit, das Bewusstsein zu behalten. Er war kaum imstande, die Außenwelt wahrzunehmen.
Wie durch dicke Watte hörte er eine, durch seine dem jetzigen Zustand geschuldete verzerrte Wahrnehmung, engelsgleiche Stimme leise flüstern „Die Reifen hat es auch erwischt. Brems, aber schau, dass du irgendwo im Gebüsch zum Stehen kommst. Ich will nicht, dass die eine gute Sicht auf uns haben, wenn wir uns nicht mehr bewegen.“ „Verdammt, mach ich“, brummte ein fiktiver Bär direkt vor ihm durch die Zuckerwatte, in die Igor jetzt eintauchte. Er nahm einen tiefen Schluck, um… Oh, diese Schmerzen. Der Laster wurde ganz arg durchgeschüttelt, Igor fiel hin und her, konnte sich mit einer Hand am Türgriff festhalten, ließ die offene Feldflasche durch die Finger zu Boden gleiten und biss die Zähne so fest zusammen, wie es ging, um zumindest nicht die ganze Zeit zu brüllen. Gerade als er heiser vor Brüllen ruhiger wurde, hörte er den mutmaßlichen Engel rufen: „Jetzt reiß dich mal zusammen. Wir sind hier nicht im Kindergarten!“ Welcher Kindergarten? Igor war verwirrt und wischte sich mit der feuchten Hand eine Menge Blut ins Gesicht und in die Haare. Er war nun ruhiger. Alles an ihm schien zu pulsieren und er spürte augenblicklich nichts, außer dem, dass ab seiner Leibesmitte alles ganz warm und feucht war. „Oh wie schön“ dachte er kurz bei sich, wurde aber von einem knatternden „Ratatatata..“, das sehr nahe zu sein schien und wieder zu einigen dumpfen metallischen Aufschlägen ganz in der Nähe führte, unterbrochen. Der Bär rief ihm(?) zu: „So, raus jetzt, ich gebe dir Deckung“. Türen flogen gefühlt vor den Ohren Igors auf und auch er suchte nach dem Türknauf, drückte fest dagegen und fiel kopfüber in ein Gebüsch. Der Aufprall am Boden ließ ihn kurz ohnmächtig werden. Als er aufwachte, hörte er ganz nahe ein Gewehr feuern. Ein, zwei, drei Schüsse. Das war eine Kalaschnikow. Einzelfeuer. Iwan hatte so ein Ding. Igor war überrascht, wie klar er plötzlich denken konnte.
Die Schmerzen hatten nachgelassen und er horchte ganz ruhig in die Dunkelheit des Waldes. Es dürfte etwa 22:00 sein, sagte ihm seine innere Uhr.
„Bleib ruhig mein Freund. Wir kümmern uns später um dich!“ sagte Iwan ganz nahe bei ihm. Gleich darauf hörte man in etwa 15 Meter Entfernung wieder das Ratata… Iwan schien erschrocken zu Boden gegangen zu sein, weil ihn Igor jetzt ganz nahe neben seinem auf den Boden gepressten Gesicht schwer atmen hörte. Aber die Kugeln dürften sie beide diesmal verfehlt haben.
Aus dem Wald, etwa aus der Richtung des Maschinengewehrfeuers, hörte Igor kurz darauf Panikschreie. Eine kleine Gruppe Männer dürfte aus irgendeinem Grund in totaler Panik schreiend, brüllend und auf nichts achtend durch das Gebüsch brechend davonlaufen. Es klang, als wäre denen ‚der Leibhaftige‘ erschienen, dachte Igor. Aber seine Vermutung war auch, dass es nun keinen Beschuss mehr geben würde.
Das Knistern eines brechenden Astes auf Laub nahe an seinem Kopf ließ ihn den Kopf drehen und hochschauen. Eine kleine Taschenlampe leuchtete ihm ins Gesicht und blendete ihn kurz.
„Ach du meine Güte, das ganze Gesicht ist voller Blut. Kannst du sprechen?“ fragte ihn Tulcinea von hinter der Taschenlampe.
Igor nickte mit zusammengekniffenen Augen. Kurz darauf spürte er zwei kräftige Arme unter seinen Schultern und wurde vorsichtig etwas hochgezogen und an einen Reifen des Lasters gelehnt.
„Sieht schlimm aus“ meinte Iwan. „Ein Reifen ist futsch, ein Reservetank durchlöchert. Igor hat einen Bauchschuss. Verliert viel Blut. Würde ich so liegenlassen, wenn nicht…“
„Wenn nicht was?“, fragte Igor schwach und sah jetzt, dass sich Tulcinea und Iwan jeweils links und rechts von ihm niedergehockt hatten und sich sehr lange, sehr ernste und sehr vielsagende Blicke zuwarfen.
Igor spürte, wie der Schmerz wieder pochend zurückkehrte, und er sah, dass sein Bauch und seine Beine und seine Hände voller Blut waren. So viel Blut, wie er sonst nur in Splattermovies zu sehen bekam. Er erstarrte vor Schreck und wandte sich den beiden Gesichtern vor ihm zu. Wie in Zeitlupe kamen die Eindrücke in sein Gehirn, wo sie angespornt von einem unbändigen Überlebenswillen im Zeitraffer verarbeitet wurden. Er nahm jede Falte, jede Pore in Iwans Gesicht wahr und erfasste auch das kleinste Stirnrunzeln, Augenaufblitzen, Kopfnicken und Kopfschütteln seiner beiden vermeintlichen Richter. Er erkannte, dass jetzt ohne zu reden entschieden wurde – hopp oder drop – Leben oder Tod. Wie nützlich, wie wichtig war Igor und war er es wert, dass man sich seiner annahm? Dass man Ressourcen für ihn verschwendete? Zeit verlor? Ihn eventuell ohnehin nicht mehr retten konnte.
Ihm wurde klar, dass es überhaupt keine Konsequenzen für Iwan und Tulcinea hätte, wenn sie ihn hier irgendwo liegen lassen würden. Es war Kriegsgebiet. Da konnte alles passieren. Und offiziell war er ja sowieso nicht hier.
Er nahm noch einen heftigen Aufprall an seiner Schläfe wahr, welcher seine Gedanken mit einem hellen Blitz, der schmerzhaft durch sein Gehirn fuhr, beendete.

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