ANA1-8 Aufbruch und Fahrt

ANA1
Kategorie: Story Autor: ANirgends

Die Vororte von Mariupol verschwanden in den Rückspiegeln, Igor summte für sich das Lied mit, welches im leise aufgedrehten Autoradio gerade gespielt wurde. Es war ein patriotisches Volkslied aus der Ukraine. Tulcinea bestand darauf, auf ‚ukrainischer Seite‘ der unsichtbaren Frontlinie ukrainische Musik zu hören, falls sie überraschend aufgehalten werden sollten. Auch musste Iwan hinten sitzen, weil er viel zu ‚russisch‘ wirkte. Igor war neutraler und Tulcinea entsprach dem ukrainischen Schönheitsideal – eine „gute Voraussetzung, um Kontrollposten erfolgreich zu passieren“ wie Tulcinea treffend formulierte. Sie hatten noch viele andere, teilweise recht teure und aufwändige Vorbereitungen getroffen und Igor schätzte die Chancen recht gut ein, unbehelligt nach Russland durchzukommen. Immer vorausgesetzt, sie fuhren nicht versehentlich auf eine Mine auf, kamen nicht ins Kreuzfeuer oder ein Scharfschütze hielt sie für Gegner.
Auf einem Feld links der Straße waren zwei Schützenpanzer erkennbar. Die Soldaten saßen rauchend herum. Dahinter waren einige halb im Erdreich vergrabene Granatwerfer in einer Reihe aufgefädelt zu erkennen. Igor schätzte, dass diese etwa fünf Kilometer Reichweite hatten, die Front also schon recht nahe sein musste. Auch Iwan hatte die Granatwerfer gesehen und als solche erkannt. Das konnte man seinem nun ernsteren Mienenspiel und den zusammengekniffenen, den nahen Waldrand absuchenden Augen ansehen. Iwan kennt sich aus, dachte Igor. Irgendwann frage ich ihn wegen der Buk-Raketen, nahm er sich vor. Igor ließ den Blick weg vom inneren Rückspiegel über den Horizont und besonders entlang der Straße vor sich wandern. Die asphaltierte Straße wies leichte Schäden, verursacht durch rücksichtslos ohne Gummiklötze bewegte Kettenfahrzeuge, auf. Ansonsten war sie in Ordnung. Insbesondere waren noch keine Schäden durch Artillerietreffer zu sehen.
Etwa zehn Minuten später hörten sie in der Ferne ein leichtes Wummern und es stieg Rauch am Horizont auf. Kurz darauf tauchten am Himmel zwei immens schnell und tief fliegende Flugzeuge auf. Igors Einschätzung nach waren das jetzt ukrainische Jagdbomber, die in 10 bis 15 Kilometer Entfernung gerade irgendetwas bombardiert hatten. Seine Nackenhaare stellten sich wieder mal auf und Bennos Knurren verstand er nur zu gut. Auch er war sichtlich nervös. Tulcinea schien hingegen die Gelassenheit in Person zu sein. Er schaute noch mal rüber, weil er seinen Augen nicht trauen konnte. Tatsächlich – sie war dabei Nagellack aufzutragen und tat es mit einem derart gelassenen Gesichtsausdruck, als säße sie im Park Hotel am Pool und nicht in einem Laster auf dem direkten Weg zur Donbass-Hölle.
Aber komischerweise war diese absurde Tätigkeit Tulcineas Anlass für Igor, ruhiger zu werden. So schlimm konnte es nicht sein, wenn Frau Zeit für derartige Belanglosigkeiten hatte.
Die Straße ging nun leicht aufwärts auf eine bewaldete Hügelkuppe zu, nur wenige Meter höher als das Umland. Davor standen mehrere Laster und Igor erkannte auch drei Kampfpanzer, welche getarnt zwischen den Bäumen ihre Kanonen in Fahrtrichtung ausgerichtet hatten. Auf der Straße waren spanische Reiter und Stacheldraht und ein paar Soldaten winkten ihnen aus großer Entfernung mit ihren Kalaschnikows zu. Igor verzögerte und rollte langsam auf dem neben der Straße angewiesenen Platz gleich hinter der Straßensperre aus.
Bevor der junge Unteroffizier und seine Männer zu Wort kamen, winkte Tulcinea aus dem offenen Seitenfenster freundlich zu Ihnen hinunter. „Hallo Soldaten, ihr Helden der ukrainischen Erde! Alles in Ordnung hier?“
Der Unteroffizier war sichtlich angetan von dieser Begrüßung. Und es dürfte ihn überrascht haben, eine derart schöne Frau hier an der Front zu erblicken. Er und seine Kameraden waren jedenfalls hocherfreut, als sie mehrere Stangen originalverpackter Marlboro Zigaretten, einige Flaschen Wodka und Schokolade bekamen. Tulcinea hatte auch schon die Ausweise vorbereitet und Igor sah aus jedem der drei Ausweise eine oder zwei Ecken von Euro-grünen Hundertern herauslugen. Das entging auch dem Unteroffizier nicht und dürfte auch für den wie zufällig herbeikommenden Stabsoffizier gut ins Protokoll gepasst haben.
„Was habt ihr denn auf dem Laster?“ War dann auch eine wohlwollend vorgebrachte Frage. „Hoffentlich keine modernen Waffen für die Rebellen?“
Mit der Antwort „Was immer wir dabei haben könnten, haben diese verdammten Russen sicher schon zigmal mit ihren geheimen Waffenschmuggels getoppt.“ brachte sie jedenfalls ein Schmunzeln auf des Stabsoffiziers Lippen.
Das folgende „Wir haben Freunde in Donezk und die haben uns mitgeteilt, dass man für eine funktionierende Wasserpumpe vom Modell DONZ313 dort gerade ein Vermögen zahlt. Eine solche haben wir auf dem Laster. Weiters sind wir voll mit Kleidung und Lebensmittel für das Krasnodan-Krankenhaus – eine Bitte vom Roten Kreuz.“ ließ ihn abschätzend den Blick wiederholt auf den Laster richten.
„Dürfen wir mal rein?“, fragte er und die Soldaten begannen die hinteren Gurte der Planen zu lösen. Der Laster wurde nun recht oberflächlich durchsucht. Natürlich fand man auch die Gewehre und Ausrüstungen. Aber grundsätzlich war eine riesige Wasserpumpe und viel Kleidung sowie Proviant auf dem Laster geladen. Ein größerer Bargeldtransfer, versüßt durch zwei Flaschen besten Wodka und ein Lächeln Tulcineas reichten nun, dass die Straßensperre zur Seite geräumt wurde und der Laster weiterfahren konnte.
Man winkte sich noch freundlich zu, Igor schaltete einen Gang höher und der Laster rollte langsam den kleinen Hügel runter und folgte dem weiteren Verlauf der Straße, welche nun mitten durch Sonnenblumenfelder in die Unendlichkeit zu gehen schien. Von den ukrainischen Soldaten hatten sie erfahren, dass in etwa zwei km Entfernung ein Beobachtungsposten der ‚Feinde‘ saß. Also verhielten sie sich weiterhin recht berechenbar, fuhren langsam und gleichmäßig dahin, hinter sich mehrere Kampfpanzerrohre auf sich gerichtet wissend und vor sich vermutlich einen Artilleriebeobachter sie beobachtend, der direkt mit einer Raketenbatterie verbunden sein würde. Wieso hieß dieser Bereich zwischen den Fronten eigentlich Niemandsland, wo doch alle Augen darauf gerichtet zu sein schienen, dachte Igor und nahm einen Schluck kalten Kaffee aus seinem Becher.

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