ANA1-9 Ankunft

ANA1
Kategorie: Story Autor: ANirgends

Auf der Rückbank entstand Bewegung, weil Iwan aus einer Ladeluke ein weißes Laken herauszog, an einem Holzstab befestigte und diesen aus dem Fenster nach oben hielt. „Es soll doch niemand denken wir kämen nicht in Frieden“ meinte er grinsend. So fuhren sie durch das große Sonnenblumenfeld, welches die Straße auf beiden Seiten säumte und gelangten schließlich in ein kleines Wäldchen. Danach fuhren sie durch ein zerschossenes Dorf. Im Dorf gab es einen Brunnen, um den sich ein paar ältere Menschen versammelt hatten. Etliche Straßenhunde schlichen durch Mauerreste oder lugten aus Türspalten hervor. Hier sah es ganz nach Krieg aus. Tulcinea bat Igor zu halten. Sie hatte sich auf der Fahrt die blonde Perücke heruntergezogen, den Nagellack entfernt und mit ein wenig Akrobatik das blumige Kleid gegen einen olivgrünen Overall getauscht. Nun stieg sie aus, grüßte die Leute, ging nach hinten und holte von der Ladefläche ein paar Essenspakete herunter, welche die Leute bekamen. „Hier habt ihr was zu essen.“
Von den dankbaren Leuten erfuhren sie alsdann, dass sich tatsächlich eine Raketenstellung ganz in der Nähe befand und wie man am besten – gut sichtbar und möglichst ungefährdet – hinkäme. Die Dorfbewohner kannten auch den Namen des Kommandanten – ‚Pjotr der Listige‘ wurde er genannt und Iwan schnalzte mit der Zunge. Er schien ihn zu kennen.
Tulcinea und Iwan tauschten nun die Plätze. Igor blieb Fahrer und Benno saß weiterhin wachsam auf der Rückbank. Igor folgte genau Iwans Anweisungen und sie fuhren langsam, aber ohne Unterbrechungen durch das Dorf, folgten einem engen Feldweg, welcher langsam zum Hohlweg absank und kamen an einen Bach, auf dessen gegenüberliegender Seite ein ausgedehntes Wäldchen begann. Viele Spuren von sich durch das leicht morastige Erdreich bewegten Doppelreifen waren erkennbar. Und im Gestrüpp zeigten sich auch schon uniformierte Separatisten, welche mit Gewehren im Anschlag näher kamen.
„Wo ist Pjotr der alte Hurensohn“, rief Iwan ihnen laut zu. „Ich bin’s - Raketen-Iwan!“ Misstrauische Blicke wechselten zwischen den bewaffneten Separatisten, aber die vertrauliche Anrede schien zu wirken und sie entspannten sich ein wenig. Die Finger waren nun weniger nahe an den Abzügen, glaubte Igor zu erkennen.
Tatsächlich tauchte nach einiger Zeit besagter Pjotr auf. Pjotr erkannte Iwan und es gab ein großes Hallo. Man musste den Laster verlassen (nur Benno blieb zurück) und wurde ins Lager geführt. Es gab Mittagessen (ein guter Eintopf) und Flaschen machten die Runde. Allerdings war es billiger Wodka und Iwan musste natürlich mit einer ganzen Kiste aus Mariupol auftrumpfen. Es gab hier fünf Grad Raketenwerfer inklusive Kommandofahrzeug und die Straße nach Mariupol sowie zwei kleine Vorstädte in etwa 15 km Entfernung hatte man im Blickfeld. Pjotrs Einheit wartete auf den Beginn der Offensive gegen Mariupol. Diese sollte in den nächsten zwei bis drei Wochen beginnen.
Sehr spannend dachte Igor. Was man da alles erfährt, ohne überhaupt gefragt zu haben. Also ist Iwan, besser Raketen Iwan‘ verbesserte er sich in Gedanken, ein großer Fisch bei den Separatisten. Da werde ich später mal nachfragen. Nur interessehalber.
„Wir haben eine Menge Zeugs für Oberst Przemysl und sollten morgen weiter nach Luhansk um die Sachen abzuliefern. Kannst du uns jemand mitschicken, damit wir gut durchkommen?“ fragte Iwan seinen Freund.
Trotz der bedrohlichen Kulisse wurde es ein entspannter Nachmittag und Abend in dem kleinen Sumpfwäldchen. Das Störendste waren viele Stechmücken und ein hoch fliegender ukrainischer Aufklärer. Tulcinea lernte von auskunftsfreudigen Technikern, wie man eine Grad Rakete justieren und die Zielerfassung bestmöglich vornehmen konnte. Pjotr und Iwan redeten über die politische Situation und genossen die mitgebrachten Zigarren. Igor hielt sich eher nahe dem Laster auf und las in einem Buch, das er auf der Rückbank gefunden hatte – Machiavelli ‚Der Fürst‘.
Am nächsten Tag fuhren sie von Pjotr himself in einem Land Rover geführt über diverse Landstraßen nach Luhansk und trafen auf Oberst Przemysl. Dieser übernahm dankbar die gesamte Ladung, inklusive der alten Pumpe, welche mühsam abgeladen und am Straßenrand liegengelassen wurde. Es war eine Idee von Tulcinea gewesen, das alte Stück zur besseren Tarnung der Mission einzuladen.
Das wichtigste Mitbringsel war ein Lagebericht Iwans, welchen er dem Oberst folgendermaßen darlegte: Es werde keinen Aufstand wie in Luhansk oder Donezk in Mariupol geben, weil der Widerstand zu schwach sei. Außerdem wurden um die Stadt starke ukrainische Armeeeinheiten zusammengezogen. Es würde darum sehr, sehr schwer sein, die Stadt einzunehmen.
Igor vermutete, dass diese Infos in der Karaoke Bar den Besitzer gewechselt hatten. Damals als er Iwan und Tulcinea das erste Mal gesehen hatte. Jetzt war er, Igor, mitten im Kriegsgebiet. Ganz wohl fühlte er sich aus diesem Grund nicht mehr. Er wollte eigentlich herausfinden, ob Iwan eine Affäre hatte, oder wirklich Gold im Tank des Lasters war. Aber zumindest das Geld für eine erfolgreiche Fahrt nach Astana hätte er gerne eingestreift. Hoffentlich war seine Reise nicht bald hier, in Luhansk, mitten im Kriegsgebiet, zu Ende.

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