ANA2 Igor – Unterricht

ANA2
Kategorie: Story Autor: ANirgends

52, 53, 54, 55, 56 – prustend und nach Luft ringend zog Igor seinen Kopf aus dem kleinen Becken des Dorfbrunnens. Er war ein wenig verunsichert, weil es ihm normalerweise gelang, deutlich mehr als sechzig Sekunden mit dem Kopf im Wasser zu bleiben. Aber wie gewohnt war der Kopfschmerz jetzt wie weggeblasen. Zufrieden trocknete er sich die Haare und das Gesicht mit dem mitgebrachten Handtuch ab und verscheuchte die beiden Hühner zu seinen Füßen. Mit einem erschrockenen Gegacker liefen sie zu ihrem Hahn, der seinerseits erbost zu Igor herübersah. Lilly und Timmi, die beiden Kinder des Dorfschmieds, welche ihn auch beobachtet hatten, kicherten noch einmal und gingen dann fröhlich von einem Bein auf das andere hüpfend den Weg zur Dorfschule weiter. Das Dorf hatte lediglich sieben Kinder und diese wurden gemeinsam unterrichtet, wusste Igor. Daneben gab es zwei Babies und vier Jugendliche. Wahrhaft keine große Siedlung war das. Und nach den etwa hundert Tagen hier kannte man jeden Einwohner nicht nur beim Namen, sondern oft genauer, als es einem lieb war.

Nun denn, Igor nahm seine Tasche sowie das nasse Handtuch und machte sich auf den Weg zu seiner ‚Schule‘. Er und Marjeka erhielten an jedem Eintag, das war der erste Tag der Woche, Unterricht über die Eigenheiten der Welt, in welcher sie sich nun befanden. Er erinnerte sich zum wiederholten Male an die Zeit in der Tetris-Halle, jenen sonderbaren Ort, an dem sie angekommen waren, nachdem sie das futuristische ‚Time Shuttle‘ aus einer Höhle in Grönland über etwa 34 Millionen Lichtjahre auf einem Planeten in der Galaxie M65, der Leo Gruppe, abgesetzt hatte. In der Tetris-Halle waren sie etwa ein halbes Jahr lang damit beschäftigt gewesen, gemeinsam mit Iwan, Tulcinea, Dargoff und Benno die mitgebrachte Beute des ANKH Teams zu sondieren und teilweise auszuwerten. Igor und Marjeka waren damals beauftragt worden, die Inhalte von Datenträgern und Büchern nach Bedeutung und Klassen zu kategorisieren. Dies war für Erdgeborene leichter, weil für Personen aus Arca-Nihil eine wissenschaftliche Abhandlung oft nicht von einer erfundenen Science-Fiction Story unterscheidbar war. Für diese Arbeit wuden sie bezahlt und nebenbei in Arca-Nihil‘s offizieller Sprache, kurz ANOS genannt, unterrichtet. Es wurde ihnen auch gesagt, dass sie früher oder später ein freies Leben auf Arca-Nihil führen könnten. Aber man müsse sie darauf vorbereiten. Nach dem Aufenthalt in der Tetris-Halle und dem Erlernen von ANOS begann dann Phase II des Integrationsprozesses. Sie wurden mittels eines ‚Stargate‘ genannten Gerätes zuerst nach Arca-Nihil gebracht und dann des Nachts durch die Stadt gefahren und in einem Luftschiff auf die Insel hier gebracht. Offiziell war es ihr neuer Wohnort. Marjeka und Igor waren sich aber einig, dass es sich um ein Sicherheitsgewahrsam handelte. Ähnlich Gefängnisinseln auf der Erde wie zum Beispiel Alcatraz, weil es unmöglich war, von dieser mitten im Meer liegenden Insel wegzukommen. Einzig in ihrer Außenwahrnehmung unterschieden sich Igor und Marjeka dabei. Für Igor war es ein schöner Ort, wo man sich sehr gut für die Zukunft vorbereiten konnte und Marjeka fühlte sich wie eine Katze an der Leine – eingesperrt und ungerecht behandelt. Vor lauter Grübeln darüber wäre Igor fast am Tempel vorbeigegangen. Schnell ging er die paar Schritte, die er zu viel gemacht hatte, zurück und nahm bei der verpassten Wegegabelung die Abzweigung zum Tempel. „Guten Morgen Herr Mönich!“, sagte er freundlich zu dem älteren, etwas molligen Mann mit der Halbglatze. „Schöner Tag heute, nicht wahr?“ Herr Mönich erwiderte den Gruß, drückte ihm einen Becher dampfenden Kaffees in die Hand und sie standen noch eine Weile vor dem einfachen Steinbau und schwatzten über Wetter und Befindlichkeiten, bevor sie ins Gebäude eintraten. „Na, dann lasst uns heute beginnen!“ Bruder Tom ergriff wie immer als Gastgeber der kleinen Runde als Erster das Wort. Das Setting bestand aus Igor und Marjeka als die zu Unterrichtenden und den beiden Lehrenden Bruder Tom und Herrn Mönich. Bruder Tom war der lokale Gorfanpriester. Als Priester hatte er eine gute Allgemeinbildung, die er weiterzugeben pflegte. Seit vier Wochen hatte er Verstärkung aus Arca-Nihil in Form des älteren Herrn Mönichs erhalten. Dieser wurde als technologischer Kapazunder gehandelt und wusste zu fast allem eine Antwort. Igor fand ihn extrem gebildet und wirklich sehr umgänglich. Sie waren fast schon Freunde. Noch wichtiger als der Unterricht war allerdings der umgekehrte Wissenstransfer. Herr Mönich arbeitete mit Marjeka und Igor im ANKH Labor zusammen und lernte dabei viel von den beiden über Erdtechnologie. Das war der eigentliche Grund seiner Anwesenheit. Da waren sich Igor und Marjeka einig. „Unser Thema ist heute das ANMASS. Die Währung in unserer Stadt. Aber bevor wir uns darin vertiefen – gibt es etwas, das wir vorher besprechen sollten? Ist euch im Laufe der letzten Woche etwas untergekommen, das wir hier erörtern könnten?“ „Der Salzsee“, Marjeka sprach es sehr scharf und zu laut für den kleinen Raum aus. Alle Männer wirkten erschrocken. „Warum ist da so viel Salz im Krater?“, ergänzte sie die Frage, weniger scharf. „Hm, das ist eine gute Frage“, meinte Bruder Tom. „Ehrlich gesagt wissen wir das auch nicht. Der Salzsee war schon da, als wir angekommen sind und ohne genauere Untersuchungen werden wir wohl nie seine Entstehung und seine Form erklären können. Vermutlich hat es früher mehr geregnet und es war ein See im Krater. Als der See dann ausgetrocknet ist…“
Er wurde von Marjeka ungeduldig unterbrochen:
„Regenwasser enthält kein Salz mein lieber Tom. Wenn das ein erloschener Vulkan ist, dann kann da auch nie Salzwasser drinnen gewesen sein.“ Nach kurzem Schweigen meldet sich Herr Mönich zu Wort. „Liebe Marjeka! Du hast vollkommen recht, dass das merkwürdig ist. Aber bedenke bitte, dass unser Volk auch erst seit etwas über hundert Jahren auf dieser Welt ist. Unser Weltbild hat sich in letzter Zeit auch mehrmals verändert und du wirst bei etwa 50 % unserer Bevölkerung die Kringeltheorie hören. Diese besagt folgendes: Wir leben in einem Eimer, welcher von der vor kurzem entdeckten Banks-Barriere gebildet wird. Im Eimer ist Wasser. Ein Meer, in welchem der Kontinent ‚Caltha‘wie ein überdimensionaler Kringel auf dem Wasser schwimmt. Hinter der Banks-Barriere, welche verhindert, dass das Wasser einfach abrinnt, leben die Götter. Nicht wahr, Bruder Tom?“ Bruder Tom nickte heftig. „Ja, Genau! Ihr dürft nicht vom Wissen unserer ANKH-Leute auf die Allgemeinheit schließen. Was Herr Mönich damit wohl sagen wollte ist: wir sind naturwissenschaftlich weit davon entfernt, uns die Welt um uns herum erklären zu können, wie ihr es gewohnt seid. Oder glaubt ihr im Ernst, dass wir ein Team Forscher auf die Klärung des ‚ausgetrockneten Salzsee Phänomens‘ ansetzen können, wenn wir noch nicht mal das iPhone erfunden haben?“ Er sagte das mit einem leichten Lächeln über die aus seiner Sicht gelungene Anspielung auf ihre ANKH Arbeit, wo sie letzte Woche über irdische Smartphones gesprochen hatten. Es entstand eine Pause, welche Herr Mönich beendete. „Wir wissen, dass Devenport Island vor Jahrzehntausenden, als eine frühere, hoch entwickelte Rasse diesen Planeten beherrschte, eine wichtige Rolle gespielt hat. Eventuell wäre der Salzsee kein Rätsel mehr, wenn wir herausfänden, was damals auf Devenport Island geschah. Nachdem wir mit der Lösung dieser Rätsel nicht in absehbarer Zeit rechnen können, schlage ich vor, wir beenden das Thema Salzsee an dieser Stelle und beginnen mit dem etwas aktuellerem Thema, Wirtschaft und Währung. Weil dieses Wissen braucht ihr, wenn wir euch ins freie Leben entlassen, viel dringender.“ Devenport Island hatte also früher eine wichtige Rolle gespielt, wiederholte Igor für sich im Geist. Ich wette das hat mit der Höhle zu tun. Toll dass Marjeka diese entdeckt hat. Ich bin schon gespannt was wir da drinnen finden werden. Igor hörte auf eigene Gedanken zu spinnen, als Herr Mönich an der Kreidetafel zu zeichnen begann. „Ihr kennt die Feiertage in unserem kleinen Reich noch nicht“, sagte Herr Mönich, als er einen horizontalen Strich auf der Tafel zeichnete, diesen in der Mitte teilte und die Zahl ‚200‘ darunter schrieb. „Unser Kalender hat 400 Tage und am 200’sten feiern wir den BANKtag. BANK steht für ‚Büro für Arca-Nihil Kommerz‘ und ist quasi unsere Nationalbank. Am BANKfeiertag kommen also alle Leute in ihre BANKfiliale und tauschen ihre ANMASS um, weil die alten an Wert verlieren.“ „Was in ein paar Wochen verliert mein hart erarbeitetes Geld seinen Wert?“, ereiferte sich Marjeka aufgebracht. Herr Mönich lächelte ihr gütig zu. „Mit einer derartigen Reaktion habe ich gerechnet. Das letzte Jahr haben unsere Wirtschaftsexperten damit verbracht, Bücher über das Finanzwesen der Erde zu lesen und dabei bemerkt, wie anders es bei euch läuft. Bei euch glauben alle an eine starke Währung, ohne zu erkennen wie fatal das sein kann. Zum Glück haben wir das immer schon, dank unserer Vorfahren, anders gehandhabt.“ Herr Mönich löschte das Tafelbild und begann mit Pfeilen und Balken finanzwirtschaftliche Zusammenhänge zu zeichnen. „Euch ist sicherlich aufgefallen, dass die ANMASS Münzen im Gegensatz zu echten Gold-, oder Silbermünzen recht einfach, ja zerbrechlich anmuten. Auch die Geldscheine sind einfach gemacht. Jede Münze und jeder Schein hat eindeutige Merkmale, die zeigen in welchem Jahr er geprägt oder gedruckt wurde. Und jedes Jahr wird er um 5 % vom Ausgabewert abgewertet. Darum tauschen die Leute auch am BANKfeiertag um. Weil alte Münzen und Scheine oft nicht mehr in Geschäften akzeptiert werden.“ Aber da beraubt ihr die Leute ja ihres Ersparten!“, ereiferte sich jetzt Igor. „Man kann doch den Leuten nicht einfach das Geld aus den Taschen ziehen. Das ist ja unerhört!“ „Nun es ist eine Art von Vermögenssteuer. Aber es hat den Vorteil, dass niemand versucht, viel Geld zu horten. Das Geld ist Tauschmittel und jeder versucht es schnellstmöglich los zu werden, damit es nicht seinen Wert verliert. Auf der Erde nennt ihr es Schwundgeld. Wer bei uns viel Geld hat, kann es im Idealfall gratis verleihen und dann keine Schwundgebühr zahlen, aber es kann kein Zins aus einem Vermögen bezogen werden.“ Igor schluckte, weil er schon gerne sein Geld ein wenig für sich arbeiten lassen hätte. „Aber warum soll ich hart arbeiten, wenn ich dann alles wieder verliere?“ „Arbeiten zahlt sich immer aus, weil man dann Geld verdient. Und in Arca-Nihil gibt es eine Beschäftigungsgarantie. Wenn euch sonst niemand anstellt, bekommt ihr für ein ANMASS eine Beschäftigung beim Staat. ANMASS bedeutet ‚Arca-Nihil Mindeststundensatz‘ und ist ein garantierter Betrag, unter dem man für eine Arbeitsstunde nicht beschäftigt werden darf. Weiters gibt es eine Preisstabilität, weil es durch den fehlenden Zins zu keinen Preiserhöhungen kommt. Einzig Schwankungen bei einzelnen Produkten sind möglich. Diese sind umso geringer, je größer der Personaleinsatz dabei ist, weil dieser ja immer in ANMASS gerechnet wird.“ Herr Mönich war sichtbar in seinem Element, die Erklärungen gingen ins Detail und zogen sich bis in den Nachmittag hinein. Igor fasste für sich zusammen, dass Bargeld auf Arca-Nihil regelmäßig abgewertet wurde. Diese Abwertung konnte man reduzieren, indem man das Geld auf eine Bank brachte, oder verlieh. Zinsen bekam man nie, aber bei geschickter Veranlagung konnte man den Wert des Geldes erhalten. Investitionen wurden derart gefördert und es gab nur wenig Motivation Geld ungenutzt zu horten. Herr Mönich sprach später noch über Grundbesitz. Dass dieser immer nur temporär sei. Aber das interessierte Igor dann schon nicht mehr so. Er rechnete im Kopf, was das Gehörte für ihn bedeuten würde. Er hatte ungefähr ein halbes Jahr in der Tetris-Halle und hier auf Devenport Island für fünf ANMASS die Stunde gearbeitet, was ein sehr hoher Stundenlohn war. Er hatte jetzt genau 5.221 ANMASS in seiner Geldbörse. Am BANKtag würde er umtauschen müssen und sein Vermögen würde dabei um 261 ANMASS sinken. Das war verkraftbar. Aber er verstand das Prinzip – jeder bekommt Arbeit und kann sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen. Ihn als Habenichts traf das sicher weniger als reichere Leute. Als die beiden Tempeldiener zum Essen läuteten und alle gemeinsam am Tisch saßen um das Tischgebet zu sprechen und danach das Essen einzunehmen, herrschte schon entspannte Ruhe. Igor und Marjeka hatten wieder viel über ihre neue Heimat gelernt und Igor entging nicht, dass Bruder Tom schon wieder möglichst unauffällig lüsterne Blicke in Richtung Marjeka warf. Soll er sich doch die Zähne an ihr ausbeißen, dachte Igor grimmig. Er hatte bei Marjeka schon lange jede Hoffnung auf mehr als gemeinsame Spaziergänge und gemeinsam von der Erde zu träumen, aufgegeben.

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