ANA2 Marjeka – Sarntag

ANA2
Kategorie: Story Autor: ANirgends

Wie immer am Sarntag war Marjeka bereits früh am Morgen, vor Sonnenaufgang, auf den Beinen. Sie packte sich ein kleines Frühstück, bestehend aus trockenem Brot, Ziegenkäse und Oliven in ein sauberes Tuch und steckte es gemeinsam mit einem Brotmesser, einer Schnur, einem Feuerzeug und einem kurzen Seil in ihren Rucksack. Leise verließ sie ihr kleines Häuschen am Rande des Dorfes und begab sich auf den Richtung Nordosten führenden Trampelpfad. Der Weg war fest in den steinigen Boden getreten und auf der abschüssigen Seite zumeist mit Steinen gesäumt. Es ging leicht bergauf. Nach kurzer Zeit erreichte Marjeka, schon ein wenig vom Anstieg aufgewärmt, aber noch bei weitem nicht erschöpft den schlichten Gorfan-Tempel. Hier wohnte Bruder Tom mit seinen drei Mitbrüdern. Sie würden etwa um neun Uhr eine Messe zu Ehren ihres Gottes und des restlichen Pantheons abhalten. Leicht amüsiert erinnerte sich Marjeka dabei an die Begründung, welche Bruder Tom vorgebracht hatte, als Marjeka fragte, warum denn die einzelnen Götter nicht miteinander um Anhänger konkurrierten. Bruder Tom meinte, dass man bei einer so liberalen Gesellschaft wie sie Arca-Nihil nun einmal darstellte, mit konkurrierenden Glaubensrichtungen nicht weit käme. Darum hätten sich die Anhänger der einzelnen Götter dazu entschlossen, gemeinsam aufzutreten. Das habe sich bewährt.

„Von wegen liberal“, grummelte sie leise und fügte in Gedanken hinzu mich hier auf der Insel wie eine Gefangene festzuhalten ist alles andere als einer liberalen Gesellschaft würdig. Derart in Gedanken versunken passierte sie den Ort der Anbetung und setzte den Aufstieg fort. Schließlich erreichte sie den angepeilten Bergkamm und wurde mit dem ihr bereits sehr vertrauten Anblick des etwa drei Kilometer durchmessenden Kraters belohnt. An einer Stelle nahe des Punktes, wo der Weg den Bergkamm erreichte, befanden sich drei zirbenartige Nadelbäume. Zwischen diesen hatte vor langer Zeit jemand eine einfache Bank eingearbeitet. Die Bretter waren über die Jahre von den Baumstämmen regelrecht eingesperrt und eingezwängt worden und inzwischen derart überwachsen, dass sie zwar keinen Millimeter mehr bewegt werden konnten, nun aber eine stabile, wenn auch etwas schiefe Sitzgelegenheit boten. Auf diese Bank setzte sich Marjeka und genoss zum wiederholten Male das Schauspiel der sich über den Kraterrand erhebenden Sonne im Osten. Den restlichen Tag verbrachte sie damit, den Inselrundweg und alle davon wegführenden Abstiege zu bewandern. Die Insel ‚Devenport Island‘, auf der Igor und sie gefangen waren, hatte etwa zehn Kilometer Durchmesser, war rundlich und bestand im Wesentlichen aus einem Vulkankrater, der sich bis zu 500 m aus dem Meer erhob. Etwa 100 m unter dem Kraterrand gab es einen Rundweg. Entlang des Rundweges befanden sich immer wieder Stellen, wo die Inselbewohner an passender Stelle kleine Felder, Weingärten oder Gemüsegärten angelegt hatten. Aber nach allen Seiten begann früher oder später ein starkes Gefälle den Abstieg zum Meer unmöglich zu machen. Man hatte also einen wunderschönen Meerblick, aber bis auf ein paar Ausnahmen keinen Zugang zum Meer. Der Kraterrand war an drei Stellen durch steil hinaufführende Wege erreichbar. Von dort oben hatte man auf der einen Seite einen wunderbaren Ausblick auf die tiefer gelegenen Inselteile sowie das azurblaue Meer und auf der anderen Seite konnte man den Krater gut überblicken. Im Krater wuchsen wenige Bäumen und Büsche. Viele mittelgroße und kleine Felsbrocken lagen verstreut herum. Marjeka vermutete, dass die Erosion des Kraters schon seit vielen Jahrtausenden erfolgte. Vulkanische Aktivitäten hatte diese Insel aus ihrer Sicht jedenfalls schon seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt. Am Boden des Kraters war ein kleiner, ausgetrockneter Salzsee. Marjeka war dort schon oft gewesen, hatte aber keine Ahnung, was es mit diesem auf sich hatte. Weil sie das früher beschäftigte, machte Igor diesbezüglich Berechnungen und stellte damals fest, dass bei der Menge Restsalz fast der gesamte Krater einmal mit Salzwasser gefüllt gewesen sein musste. Dieses Mysterium war nicht akut bedrohlich, aber für eine Frau wie Marjeka war allein die Existenz dieses ungelösten Rätsels eine ärgerliche Unsicherheit, mit welcher sie sich nicht so einfach abfinden wollte. Beim heutigen Anblick des Salzsees, nahm sie sich vor, Bruder Tom deswegen beim morgigen Unterricht anzusprechen. Als die Sonne sich mit einem famosen Farbenspiel Richtung Meereshorizont für diesen Tag zu verabschieden begann, stand Marjeka von ihrem Sitzplatz im Schatten eines Nadelgehölzes auf und begann die Reste ihres Abendessens einzusammeln. Danach schulterte sie ihren Rucksack und summte leise „And it seems to me you lived your life, like a candle in the wind, never knowing who to cling to when the rain set in…” Marjeka war zwar kein Lady Di-Fan, liebte aber dieses traurige Lied von Elton John. Und es passt zu meiner Situation dachte sie grimmig bei sich und summte die gleiche Melodie mit geändertem Text. “And it seems to me you live your life like a cattle in this prison, never knowing who to trust when the enemy shows up, oh yeah!” Euch werde ich es schon noch zeigen dachte Marjeka wiederholt bei sich. Oft kam sie, wenn sie wie heute stundenlang alleine auf der Insel umherwanderte, in einen nahezu ekstatischen Zustand, wo sie dann, während sie schnellen Schrittes sicher die für sie wohlbekannten Wege entlangeilte, davon träumte, einen Weg zurück zur Erde zu finden und zurück im Pentagon dann Bericht zu erstatten. Daraufhin kamen große Mengen amerikanischer Marineinfanteristen und eroberten diese kleine Enklave des Piratentums, genannt Arca-Nihil. Solche Wachträume waren pure Genugtuung für Marjekas angeschlagenes Ego. Als sie im tiefer gelegenen Dorf ankam, waren ihre Träumereien schon weg und die Sonne untergegangen. Sicheren Schrittes passierte sie eine kleine Orangenplantage und kam über einen kleinen Weg zu den ersten Häuschen des Dorfes. „Hast du dich schon wieder mit dem selbstgefälligen Zwerg betrunken?“, fragte die Heimkehrende den im Halbdunkel seiner Terrasse sitzenden Igor leicht verächtlich und setzte sich auf den Stuhl, welchen Igor für sie frei gemacht hatte. „Bist du bis zum Sesostag wieder nüchtern? Ich brauche dich wegen der Höhle.“ Igor nickte kaum erkennbar im Halbdunkel und steckte sich mit unsicherer Hand eine Dattel in den Mund.

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