ANA1-27 Sternengucker

ANA1
Kategorie: Story Autor: ANirgends

„Was passiert, wenn wir sinken und alle eure Schätze verloren gehen?“ Igor fragte mit vollem Mund kauend, ohne aufzusehen.
Tulcinea und er saßen zu später Stunde in der Kombüse, an einem kleinen schmuddeligen Tisch und tranken Instantkaffee. Dazu hatte sich Igor eine Dose feinsten Kaviar aus ihren Beständen aufgemacht und stopfte sich die edlen Fischeier ungeniert mit einem kleinen Löffel in den Mund.
Tulcinea schien das eklig zu finden, reagierte aber bereitwillig auf seine Frage.
„Für die ANKH, also hauptsächlich Benno und mich, wäre das ein Fiasko. Wir haben inzwischen zwei volle Jahre in diese Mission gesteckt. Wenn das alles jetzt im Eismeer versinken würde, wäre all die Arbeit umsonst gewesen.“
„ANKH habe ich schon mal gehört. Wofür steht das noch mal?“ fragte Igor schmatzend.
„Arca-Nihil knowledge harvesting. So nennen wir unser Unternehmen.“
„Aha“
„Zu deiner ursprünglichen Frage zurückkommend. Alles was wir da in den Kisten über viele Jahre gesammelt haben. Das ist unser Lebenswerk. Etwa 60.000 Bücher, CD’s, DVD’s, Datenträger. Viele Schaustücke, Anleitungen, usw.“ eindringlich sprach Tulcinea dahin.
„Aber alles legal und nichts was wir uns nicht wieder besorgen könnten. Wir haben auf Flohmärkten, in Supermärkten, Elektronikläden, Museen, auf Schrottplätzen und in Onlinestores eingekauft. Bei euch auf der Erde ist das alles Allgemeingut. Würden wir mit ein paar Koffern reisen wäre es kein Thema. Sogar diese Raumanzüge und Raumschiffteile haben wir legal gekauft und dürften sie wahrscheinlich überallhin mitnehmen. Unser Fehler war nur, dass wir, nun ja, etwas gierig waren und alle Arbeit auf einmal erledigen wollen“ seufzte sie.
„Warum dann so gierig und nicht auf Nummer sicher?“
„Es geht um den Überblick. Wenn wir es schaffen das alles in ‚unsere‘ Welt zu bringen, dann haben wir ein ziemlich komplettes Set eurer Standardtechnik und eurer Kultur. Damit ist besser arbeiten als mit dem Stückwerk wie bisher.“
„Ihr raubt also unsere Welt aus und das nennst du legal?“, regte sich Igor jetzt doch ein wenig auf.
„Unser Volk ist recht klein an der Zahl und unser Umfeld recht bedrohlich. Wenn wir dieses Wissen langsam und bedacht einfließen lassen, können wir unser Volk friedlich auf einen Standard bringen, den es braucht um zu überleben. Du musst wissen, dass wir schon fast 100 Jahre an der Sache arbeiten und unser Volk gesellschaftlich für irdische Verhältnisse äußerst fortschrittlich ist. Es ist einfach eine unglaubliche Chance es mit eurer gewaltig vielfältigen Kultur und Technik zu bereichern.“
„Und diese 100 Jahre hat euch nie jemand bemerkt?“
„Wir beobachten, dass unsere Welten sich unterschiedlich schnell in der Zeit bewegen. Was bei ‚uns‘ 100 Jahre waren, dauerte hier auf der Erde keine zehn Jahre.“
Igor blickte erstaunt auf und es fielen ihm ein paar der Fischeier aus dem Mundwinkel „Aha, du erzählst Sachen“ sagte er etwas dümmlich.
„Wir sehen den Tausch legitim, weil es ja nicht einseitig ist. Wir zahlen mit barer Münze, wie du selber beobachten konntest“ setzte Tulcinea fort.
„Unsere Welt ist reich an Dingen, die hier großen Wert haben. Leider wird uns das jetzt eventuell zum Verhängnis. Wir sind vermutlich zu großzügig mit den Edelsteinen und Edelmetallen umgegangen. Es war uns einfach nicht bewusst, wie groß der Grad der Überwachung bei euch in diesen Angelegenheiten ist.“
„Jaja, Big Data. Das wird uns allen Mal zum Verhängnis. Stell dir vor, die wollen das Bargeld bald ganz abschaffen. Wie wollt ihr da dann noch eure Goldmünzen zu Geld machen? Das ginge nur, wenn ihr euch wo registriert. Ich glaube, eure Reisen sind bald zu Ende. Oder ihr sucht euch einen eigenen Edward Snowden, der euch hilft, die Spuren zu verwischen“ meinte Igor mehr im Spaß, aber Tulcinea horchte auf.
„Du hast recht. Wir müssen bei unserem nächsten Besuch unbedingt einen verlässlichen, aber abtrünnigen Geheimdienstler an Bord holen. Eventuell kann uns da Marjeka helfen erste Kontakte zu knüpfen“ sinnierte Tulcinea.
Igor ging das zu schnell und zu weit. Er wollte eigentlich über Anderes reden.
„Also angenommen wir sinken nicht und bringen diesen Krempel zu ‚Euch‘. Wie geht es dort weiter?“
„Das ‚harvesting‘ ist nur ein kleiner Teil unserer Aufgaben. Wenn wir alles ‚drüben‘ haben, wird es sortiert, eingelagert, analysiert und dann langsam und bedacht in die Gesellschaft eingebracht. Wir sind die Hüter des Fortschrittes und geben mit diesen Inputs Impulse, um unser Volk voranzubringen. Das ist die schwierigste Aufgabe. Würden wir diese Sachen einfach verteilen, dann hätten wir nicht stabilen Fortschritt, sondern Anarchie, Krieg und Untergang als Resultat.“
„Ist dir klar, dass ihr euch da eine Art Gott-Rolle zumutet? Es erscheint mir schon ein wenig hochnäsig zu entscheiden, wer was wissen darf. Seid ihr dort Götter, Kaiser, oder ähnliches?“ Igor hatte zu essen aufgehört und wartete gespannt auf die Antwort.
„Nein, wir führen das Werk unseres Meisters Kane da Niwinski fort. Er ist der Gründer unserer Welt, weil er die Leute aus einer dem Untergang geweihten Gegend dorthin geführt hat, wo sie jetzt beheimatet sind. Eine gewisse Analogie zu eurem Moses, aber bei uns nicht religiös behaftet. Leider verunglückte Kane dramatisch und konnte sein Werk nicht weiter verfolgen und behüten. Dargoff und ich waren seine Schüler und haben mit dem Kontakt zur Erde eine Möglichkeit gefunden, mit unseren zugegeben bescheideneren Fähigkeiten, sein Werk auf andere Art und Weise fortzuführen.“ Man sah Tulcinea an, dass sie ins Träumen verfallen und in Gedanken abgedriftet war. Aber mit einem Ruck kam sie wieder zurück in die Wirklichkeit.
„Genug palavert. Das ist alles viel zu weit weg von deiner Wirklichkeit. Wir meinen es gut und helfen unserem Volk. Und wenn du uns hilfst diese Fracht abzuliefern, kannst du sehr gerne mitkommen und uns helfen auch nachher alles richtig zu machen“ schelmisch zwinkerte sie ihm zu.
„Weißt du wo wir herkommen? Willst du es sehen?“ fragte sie im Aufstehen.
Igor folgte Tulcinea aufs Deck der Montenaken. Sie stand schon an der Reling, den Blick nach oben in den klaren Sternenhimmel gerichtet. Igor fröstelte, das Schiff war überall mit Reif bedeckt, es hatte Minusgrade. Man war dem Eismeer schon sehr nahe.
„Siehst du den Polarstern? Wenn du der Linie dieser beiden Sterne folgst und dann ein wenig südlich blickst, gleich neben dem Sternenhaufen da – dann siehst du ein paar ganz schwache Lichtpunkte - einer davon ist die Leo Gruppe, bestehend aus M65, M66 und NGZ3628. M65 - das ist unsere Galaxie. Wir nennen sie Ultima III.“
Sie hatte eine feierliche Stimme und auch Igor wurde ganz andächtig und bekam eine richtige Gänsehaut. Nicht wegen der Kälte, sondern wegen der skurrilen Vorstellung, dass Tulcinea wirklich glaubte, von da oben zu sein, oder auch von der Vorstellung, dass er eventuell tatsächlich in ein paar Tagen da oben sein sollte. „Wenn du mitkommst, zeige ich dir die Milchstraße. Aus etwa 35 Millionen Lichtjahren Entfernung. Warst du schon einmal so weit von zu Hause weg?“
Egal ob es stimmte oder nicht, Igor stand noch lange wortlos neben Tulcinea und schaute zu dem kaum sichtbaren Lichtschein der Leo Gruppe hinauf. So lange bis es ihm zu kalt wurde und er zurück in die Kombüse zu seinem Kännchen Instantkaffee ging. Sein Gang war unsicher und der Gesichtsausdruck recht nachdenklich.

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