ANA1-24 Umstieg auf Schiff

ANA1
Kategorie: Story Autor: ANirgends

Die Ankunft des Zuges in Wladiwostok war ein Ereignis. Schon vorher, als sie noch des Öfteren an den Gestaden des Amur, des Grenzflusses zu China, entlangfuhren, klebte Igor quasi an der Fensterscheibe und sog das gewaltige Panorama der Landschaft in sich auf. Igor liebte es zeitlebens zu reisen, aber was er hier sah, beeindruckte ihn gewaltig. Und stolz auf ‚sein‘ Land zeigte er Tulcinea, die ihm des Öfteren Gesellschaft leistete, so unterschiedliche Details, wie alte verfallene Fabrikhallen, wunderbare Bergspitzen, Flusswindungen, einmal einen Bären oder einfache Arbeiter auf einem Feld.
Wladiwostok war eine Stadt im Aufbruch. Sie hatte Jahrzehnte vor sich hin gerostet, aber jetzt merkte man, dass der Pazifikhandel zu blühen begann. Viele Häuser wurden restauriert, der Hafen ausgebaut, angeblich gab es auch eine neue riesige Brücke auf eine vorgelagerte Insel in der Nähe. Aber die bekam Igor nicht zu Gesicht.
Kurz vor der Ankunft im Hauptbahnhof hagelte es allerdings Instruktionen.
Iwans und Tulcineas Plan sah folgendermaßen aus:
Er, Igor, sollte sich um die Verladung aller Kisten aus dem Güterwaggon kümmern. Das inkludierte eine Kiste mit den Leichensäcken der zwei Toten und einer großen Holzkiste. Diese Holzkiste sollte Marjeka beherbergen – und Iwan, der sich darum kümmerte, dass ihr nichts geschah und sie gleichzeitig mit Schlafmitteln so vollpumpte, dass sie sicher nicht aufwachte. So lange bis das Schiff ablegte.
Allerdings, und das war das Schwierigste an seiner Aufgabe, musste er, Igor, ein Schiff dafür chartern. Möglichst ein unauffälliges Boot, das man bei Nacht und Nebel beladen konnte, um dann abzufahren.
Tulcinea und Benno würden inzwischen den alten Plan weiter verfolgen und das gebuchte Expeditionsschiff mit Kisten voller Schrott anfüllen und so tun, als würden sie normal abfahren. Das sollte die Häscher ablenken und eine Flucht ermöglichen.
Ein anspruchsvoller Plan. Besonders für Igors Improvisationstalent.
Also stand er jetzt am Hafen und inspizierte die vor Anker liegenden Schiffe. Ausflugsschiffe und kleine Kreuzfahrtschiffe, die konnte er gleich mal alle ignorieren. Genauso all die Fähren, Privatjachten und um den Militärhafen machte er sowieso einen großen Bogen. Da blieb dann gar nicht so viel übrig.
Aus der Ferne beobachtete er wie Tulcinea und Benno an Bord ‚ihres‘ Expeditionsschiffes gingen. Ein tolles Gefährt mittlerer Größe, ideal um nach Norden in Richtung Eismeer vorzustoßen. Auf so einem Schiff hätte Igor sich wohl gefühlt. Aber leider war dieses ja schon besetzt.
Am Ende blieben drei potenzielle Kandidaten übrig: ein großer Fischkutter, ein kleiner japanischer Walfänger, der auf eine Behandlung im Dock zu warten schien und ein alter Erzfrachter.
Er ging bei allen drei Kandidaten an Bord und führte jeweils ein vertrauliches Gespräch mit dem Kapitän. Die erste Hürde für ihn war die Verschwiegenheit des Kapitäns, die sofortige Verfügbarkeit und die Geldgier der Besatzung abzuklopfen.
Es stellte sich heraus, dass alle drei Schiffe betankt und einsatzfähig waren. Der Fischkutter plante diese Nacht auszulaufen und der Kapitän schien zu allem bereit, wenn die Kasse stimmte. Der Erzfrachter war leer und es würde auffallen, wenn der einfach so ausliefe. Außerdem war er nach einer kurzen Besichtigung seines großen, schmutzigen Laderaums wegen doch eher ungeeignet für eine mehrwöchentliche Tour. Weiters war er sehr langsam. Das könnte den Vorsprung, den sie sich durch dieses Ablenkungsmanöver hoffentlich erkämpfen würden, zunichtemachen, überlegte Igor. Eine harte Nuss war der japanische Walfänger. Ein schönes, schnelles Schiff, das gut gepflegt war und auch am nächsten Morgen auszulaufen plante. Allerdings war er sich bezüglich des Kapitäns nicht sicher. Dieser war Japaner, sehr höflich, sehr zuvorkommend, aber konnte man ihm trauen? Ihm trauen, dass er korrupt genug war, nicht Meldung zu machen und statt der geplanten üppigen Bezahlung lieber eine Belohnung von Interpol oder vom CIA einzuheimsen? Igor war Russe und bei den Russen kannte er sich aus. Also saß er eine Stunde später bei Pawlow in der Kajüte, trank etliche Runden Wodka und handelte die Bedingungen aus, für die Fahrt seines Lebens.
Pawlow erwies sich auch insofern als Glücksgriff, weil der alte Haudegen den Hafen und davon insbesondere den Hafenmeister wirklich gut kannte. Es wechselten viele harte Dollar und auch etliche Edelsteine und Golddukaten an diesem späten Nachmittag den Besitzer und schon stand ein feines Ladekommando der Hafenmeisterei bereit und transportierte Igors Kisten vom Bahnhof und weitere Kisten aus einer Lagerhalle nahe dem Flughafen in den Bauch des Fischkutters. Igor nützte die ungewöhnlich guten Kontakte und erledigte eine Nebenaufgabe: Alles nicht betriebsnotwendige Werkzeug des Hafens und eine Kiste feinster Lebensmittel und Alkoholika aus den Lagerhallen eines Großhändlers fanden auch den Weg in den Bauch des Schiffes. Obwohl niemand Fragen stellte, war Igor schlau genug ein paar Mal verschmitzt anzudeuten, dass ein namentlich nicht genannt werden wollender, sehr, sehr reicher Oligarch hier eine für ihn wichtige Prestigeangelegenheit erledigen wollte. Er sagte manchmal auch ganz beiläufig kurz Sätze wie ‚russischer Anspruch auf die Bodenschätze im Eismeer‘ und ‚Yankees aus Alaska eins auswischen‘. Das kam gut an und kostete nichts extra. Igor achtete darauf, dass ein paar Goldmünzen und der größte Edelstein dafür in seiner Tasche blieben. Ein Notgroschen oder seine Bezahlung? Wer weiß. Igor war in seinem Element und genoss es, Anweisungen zu geben, und mit fremder Münze zu zahlen.
Etwa um 22:00 kam Benjamin wie vereinbart zu dem von Igor gecharterten Fischkutter. Igor war immer noch erstaunt, wie groß die Ähnlichkeit zwischen Benjamin und Benno war. Aber seit er wusste, dass Benjamin ein Formwandler war und er der Tarnung wegen meist in Hundeform auftauchte, war das natürlich kein Mysterium mehr. Igor erinnerte sich in diesem Moment auch zurück an die Tage, als sie mit dem Laster von Mariupol aus aufgebrochen waren und er sich über die Schnarch-Geräusche Bennos auf der Ladefläche gewundert hatte. Wieder ein Rätsel gelöst, freute sich Igor.
„Hi, Benjamin. Wie ist die Lage bei Euch?“
„Wir sind echt beeindruckt, wie gut du das hinbekommen hast, Igor. Du bist echt jeden ANMASS wert, den wir in dich investieren.“ Sagte Benno, Igors gehobene Augenbraue der unbekannten Abkürzung wegen ignorierend.
„Du läufst vor uns aus, etwa um 2 Uhr morgens, und gibst Anweisung an folgender Koordinate zu stoppen“ Benjamin übergab einen schmutzigen Zettel mit sorgfältig notierten Koordinaten. „Unser Schiff fährt in etwa zwei Meilen Entfernung an euch vorbei. Tulcinea und ich werden in einem Motorboot ca. um 4 Uhr morgens bei euch ankommen und übersetzen. Bis dahin klar?“
„Ja, das klingt vernünftig. Sonst noch was?“
„Falls etwas schiefgeht, nimmst du dieses Handy und rufst die unter #13 gespeicherte Nummer an. Dann müssen wir uns beraten. Falls etwas ganz schlimmes passiert alarmiere Iwan. Verlass keinesfalls das Schiff. Die Ladung ist unbezahlbar und wertvoller als unser aller Leben!“
Mit diesen dramatischen Worten übergab Benjamin Igor ein Handy und die Pistole mit Schalldämpfer von Marjeka.
„Na dann, Hals- und Beinbruch. Wir sehen uns um 4 Uhr“ erwiderte Igor und steckte hastig die Gegenstände ein.
Benjamin ging möglichst unauffällig von Dannen. Ein wenig später sah der immer noch am Pier beobachtende Igor, wie Tulcinea mit einem angeleinten Hirtenhund das Expeditionsschiff wieder betrat. Falls es Beobachter gab, so wurden sie hoffentlich durch diesen Trick ausreichend in die Irre geführt und brachten die beiden Schiffe nicht in Verbindung.
Igor kehrte zu Pawlow zurück, überbrachte die Order und behielt die vierköpfige Besatzung soweit möglich ständig im Auge.

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