Das fluoreszierende Feld funktionierte ähnlich wie Tulcineas wabernde Luftkreise und Igor kam leicht aus dem Gleichgewicht und schwankend auf dem Boden einer Eishöhle zum Stehen. Sofort packte ihn ein starker Arm und schubste ihn ein wenig zur Seite, um so den nächsten Ankömmlingen Platz zu machen.
Und innerhalb kürzester Zeit war neben dem Transportteam die gesamte Besatzung der Montenaken um Igor versammelt. Ringsum türmten sich auch viele der Kisten aus dem Laderaum. Dazwischen tummelten sich weitere Männer in Exoskeletten und transportierten die Kisten eifrig, aber ohne Eile ins Innere der Höhle. Igor zählte jetzt insgesamt sechs Lastenträger.
Tulcinea winkte Igor zu und er folgte ihr in jene Richtung der Höhle, wohin die Kisten nicht transportiert wurden. Es ging leicht bergauf und er fühlte einen kalten Windhauch auf seinen Wangen. Nach etwa fünf Minuten schweigenden Stapfens durch die recht geräumige Eishöhle, welche nur von Tulcineas Sturmlaterne erhellt wurde, erreichten sie den Ausgang. Igor bot sich ein sehr beeindruckender Anblick. Die Höhle war etwa 20 Meter über der Sohle eines Tales in einer eisigen Landschaft mit mindestens hundert Meter hohen vereisten Gesteinsformationen. Man sah außer dem Tal und der gegenüberliegenden Wand nur den Sternenhimmel. Es war ein klarer eisiger Himmel, mit stechend hellen Sternen. Der schönste Sternenhimmel, den Igor jemals gesehen zu haben glaubte.
„Wir sind nahe Thule, in Grönland.“ Tulcinea sprach es leise und andächtig aus. „Wenn du mit uns kommst, ist das die letzte Möglichkeit ‚euren‘ Sternenhimmel zu betrachten.“
Igor schauderte es. Ihm wurde erst jetzt bewusst, dass er schon seit Wochen wusste, dass sie ihn mitnehmen wollten, aber er hatte diesen Gedanken immer erfolgreich verdrängt und sich mit konkreteren Gedanken beschäftigt gehalten. Darum erschien es ihm jetzt sehr unwirklich. Ähnlich unwirklich wie jene Szene im Film ‚Die Matrix‘ in der sich der Held der Handlung zwischen einer roten und einer blauen Pille entscheiden musste und sein Leben einen total anderen Verlauf nachher nahm.
„Du meinst das also wirklich so, wie du es sagst?“ Igor sah Tulcinea von der Seite dabei an. „Irgendwie halte ich es immer noch für ein Spiel mit falschen Wahrheiten und in Wirklichkeit seid ihr eine, zugegebenermaßen nette Schmugglerbande, Geheimorganisation oder Agenten irgendeines Landes.“
„Glaubst du das wirklich? Du hast doch gesehen, was wir alles bewerkstelligen konnten. Denkst du, wenn es auf eurer Erde Menschen mit solchen Fähigkeiten gäbe, würde das auf Dauer zu verheimlichen sein? Nein, mein lieber Igor, wir haben die Wahrheit gesagt und sind dabei die Erde für lange Zeit zu verlassen. Wir haben genug Beute gemacht, um unserem Volk für Jahrhunderte Fortschritt zu verschaffen und auf der Erde ist man uns inzwischen zu dicht auf den Fersen.“
Igors analytischer Verstand signalisierte seinem Bewusstsein, dass das schon so stimmen dürfte, nur er war nicht bereit es zu glauben.
„Warum wollt ihr jemanden wie mich mitnehmen? Wäre ich dann euer Sklave oder wozu wäre ich nützlich?“
„Du bist hochtalentiert und wir können Leute wie dich fast an jeder Position unserer Struktur gut brauchen. Außerdem bist du ein ehrlicher, aufrechter Charakter. Und last but not least – wir müssten deine Erinnerungen aufwändig löschen, wenn du nicht mitkommen würdest, um das Wissen über unsere Existenz zu verheimlichen.“
Das Gespräch ging noch eine Weile weiter. Am Ende standen sie schweigend noch etwa zehn Minuten am Ausgang der Eishöhle und starrten in den klaren Sternenhimmel.
Dann wandte sich Igor ruckartig zu Tulcinea und sagte fest „Ich bin dabei. Neues Spiel, neues Glück.“
Sie lächelten sich an und gingen ins Innere der Höhle.
Als alle Kisten aus dem Raum mit dem fluoreszierenden Feld verschwunden waren, wurde die Apparatur unter dem Feld, welche Igor bisher nicht aufgefallen war, deaktiviert. Es handelte sich um eine metallische Scheibe mit etwa 1,2 Meter Durchmesser, die eine glänzende Oberfläche und etliche zentrische, runde Wülste und an der Außenseite einige recht einfache Bedienelemente aufwies. Igor speicherte es für sich als ‚mobile Startrek Beamplattform‘. Marjeka war auch hier. Nach wie vor waren ihr die Hände gefesselt und ihr wurde nun eine Kapuze über den Kopf gestülpt. Auch Igor musste diese Kapuze aufsetzen. Es wurde ihm gesagt, dass sie nun im Inneren der Höhle eine Art Raumschiff betreten würden, welches die ungewöhnliche Reise nach M65 ermöglichen würde. Und nur Mitgliedern der ANKH Organisation war es gestattet, dieses Fahrzeug zu sehen und zu bedienen.
Igor folgte also blind seinem Führer Iwan. Er nahm wahr, dass sie von steinigen, eisigen Boden auf einen glatten, metallischen Untergrund wechselten und die Temperatur sich etwa auf Zimmertemperatur erhöhte. Er durfte daraufhin seinen Pelzmantel ausziehen und gegen eine leichte Jacke tauschen. Dann führte man ihn weiter. Zweimal wurde sein Kopf etwas nach unten gehalten, weil sie vermutlich etwas niedrigere Türen passierten. Danach durfte er sich in einen bequemen Stuhl fallen lassen. Der Stuhl passte sich langsam seinen Konturen an und umschmiegte ihn schlussendlich angenehm. Gurte schlossen sich um seinen Oberkörper und er war fixiert.
Er konnte anschließend den Startvorbereitungen lauschen, weil sie sich anscheinend alle im selben Raum, in der Zentrale des Raumschiffes befanden.
Start und Flug waren unaufgeregter für ihn als ein gewöhnlicher Langstreckenflug auf der Erde. Den Start verpasste er, weil außer einem leichten Brummen und Vibrieren, das bis zur Landung herrschte, keine Erschütterungen oder Geräusche auftraten.
Den Flug selber verschlief er, weil das gereichte Erfrischungsgetränk nach dem Start mit einem starken Schlafmittel angereichert war und er erst nach Erreichung des Zieles wieder wach wurde.